ZPO §§ 765a, 568 Abs. 2; GG Art. 2 Abs. 2 (Selbstmordgefahr, Verfahrenseinstellung)

1. Unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Prüfung der Voraussetzungen bei Gefahr für Leib und Leben, ist dem Vorbringen des Schuldners, ihm drohten bei einer Zwangsversteigerung seines Hausgrundstücks schwerwiegende Grundrechtsbeeinträchtigungen (hier: Suizidgefahr infolge einer starken Depression), besonders sorgfältig nachzugehen, gegebenenfalls durch Einholung ärztlicher Gutachten. Erst nach vollständiger Sachaufklärung in dieser Richtung ist unter Würdigung der Belange beider Parteien abzuwägen, ob und für welche Zeit Vollstreckungsschutz zu gewähren ist.

2. Ein den dritten Rechtszug eröffnender Verstoß gegen wesentliche Vorschriften des Beschwerdeverfahrens und damit ein neuer selbständiger Beschwerdegrund in der landgerichtlichen Beschwerdeentscheidung gegenüber der Entscheidung des Amtsgerichts liegt auch dann vor, wenn beide Vorinstanzen bei ihren Entscheidungen in erheblichem Maße ihre Aufklärungspflicht verletzt haben.

Brandenbg. OLG, Beschluss vom 6.3.2000, 8 W 26/00 (+)

1. Die sofortige weitere Beschwerde ist gemäß § 85 ZVG, §§ 793, 568 Abs. 2 Satz 1 ZPO an sich statthaft. Das Rechtsmittel ist namentlich nach § 568 Abs. 2 Satz 2 ZPO zulässig, weil in der angefochtenen Entscheidung des LG ein neuer selbständiger Beschwerdegrund enthalten ist.

Allerdings ist ein neuer selbständiger Beschwerdegrund regelmäßig dann nicht gegeben, wenn - wie hier - die erst- und zweitinstanzliche Entscheidung inhaltlich übereinstimmen. Im Streitfall hat das LG die Entscheidung des Rechtspflegers des AG durch Zurückweisung der dagegen gerichteten Beschwerde sachlich bestätigt; gleichwohl enthält die Beschwerdeentscheidung einen neuen selbständigen Beschwerdegrund im Sinne des § 568 Abs. 2 Satz 2 ZPO.

Es ist verfassungsrechtlich geboten und nach der Rechtsprechung des BVerfG den Fachgerichten bindend vorgegeben, die Vorschrift des § 568 Abs. 2 Satz 2 ZPO in dem Sinne auszulegen, dass trotz inhaltlicher Übereinstimmung der Entscheidungen der Vorinstanz ein neuer selbständiger Beschwerdegrund auch dann vorliegt, wenn die Erstbeschwerdeentscheidung auf einem wesentlichen Verfahrensverstoß beruht (BVerfG NJW 1979,538; Zöller/Gummer, ZPO, 20. Aufl., § 568 Rn. 16 m.w.N.). Diese Voraussetzung ist dann erfüllt, wenn dem LG erstmals ein Verfahrensfehler unterlaufen ist und die Sachentscheidung bei korrektem Vorgehen möglicherweise anders ausgefallen wäre (Zöller/Gummer a.a.0.). Dasselbe gilt aber auch dann, wenn beiden Vorinstanzen derselbe Verfahrensfehler dahin unterlaufen ist, dass sie prozessuale Aufklärungs- und Hinweispflichten unbeachtet gelassen haben. Solche Verstöße gegen die Verfahrensordnung treffen jedes Verfahren selbständig und eröffnen die zweite Beschwerdeinstanz auch dann, wenn der Mangel im (Erst-)Beschwerdeverfahren nicht erstmals aufgetreten ist (Zöfler/Gummer a.a.0. Rn. 20 m.w.N.).

Für die Zulässigkeit des Rechtsmittels ist es ausreichend, dass ein wesentlicher Verfahrensmangel dargelegt ist oder sich aus den Akten ergibt. So liegt es im Streitfall. Der Bf rügt nicht ausreichende Aufklärung des für die Entscheidung erheblichen Umstandes der durch die Zwangsversteigerung zu besorgenden Gesundheitsgefahr.

2. Die sofortige weitere Beschwerde ist begründet. Die Beschwerdeentscheidung des LG wird den hier zu stellenden besonders hohen -Anforderungen an die nach der Verfahrensordnung gebotene Sachaufklärung nicht gerecht. Das Rechtsmittel hat deshalb vorläufig Erfolg dahingehend, dass die angegriffene Entscheidung des LG aufzuheben und die Sache zur erneuten Prüfung und Entscheidung zurückzuverweisen ist.

Zu Recht ist das LG davon ausgegangen, dass an den Schuldnerschutz zur Milderung untragbarer, dem allgemeinen Rechtsgefühl widersprechender Härten nach § 765 a ZPO - der im Zwangsversteigerungsverfahren Anwendung findet (Zöller/Stöber, ZVG, 15. Aufl., Einl. Rn. 52 ff.) - strenge Anforderungen zu stellen sind. Das LG hat mit seiner Entscheidung eine Abwägung zwischen den der Zwangsversteigerung entgegenstehenden Interessen des Schuldners und den Belangen der Gläubiger,

deren Wahrung die Zwangsversteigerung dienen soll, getroffen. Dabei hat das LG das durch Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG geschützte Recht des Bf. auf Leben und körperliche Unversehrtheit bei seiner Entscheidung berücksichtigt. Die Güterabwägung hält einer Überprüfung im Ergebnis aber nicht stand, weil das LG bei seinem Verfahren den hier möglichen Risiken für Leben und Gesundheit des Bf. nicht hinreichend Rechnung getragen hat.

Nach der Rechtsprechung des BVerfG (BVerfG NJW 1979,2607; 1994,1272; 1994,1719), der der Senat - wie die meisten Fachgerichte -folgt (Senat, Beschluss vom 16.12.1996, 8 W 465/96; im Übrigen Nachweise bei Zöller/Stöber § 765 a Rn. 9, 11), gebietet das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG eine ganz besonders gewissenhafte Prüfung der Voraussetzungen des § 765 a ZPO, wenn nach dem Vortrag des Schuldners eine schwerwiegende Gefährdung seines Lebens oder seiner Gesundheit zu besorgen ist. Um im konkreten Fall gegenüber den Belangen der Gläubiger schwererwiegende Grundrechtsbeeinträchtigungen auszuschließen, ist namentlich dem Vortrag einer Suizidgefahr besonders sorgfältig nachzugehen. Erst wenn die gebotene gründliche Sachaufklärung hinreichende Feststellungen hierzu erlaubt, ist die Güterrechtsabwägung vorzunehmen.

Diesen strengen Maßstäben genügt die Sachaufklärung des LG nicht. Die im Beschwerdeverfahren eingeholte fachärztliche Stellungnahme vom 14.12.M9 stellt keine ausreichende Grundlage dar, die vom BE gegen die Zwangsversteigerung geltend gemachte Suizidgefahr zu verneinen. Vielmehr gibt die ärztliche Beurteilung vom 14.12.1999 selbst und unter Berücksichtigung der vom Bf. mit seinem Antrag vom 9.9.1999 eingereichten weiteren ärztlichen Atteste konkrete Anhaltspunkte dafür, dass bei Durchführung oder Fortsetzung des Zwangsversteigerungsverfahrens Suizidgefahr besteht. Nach den fachärztlichen Attesten vom 27.7.1999 und vom 31.8.1999 leidet der Bf aufgrund massiver persönlicher und existentieller Probleme unter einer schweren Depression, die seit längerer Zeit unter konkreten Vorstellungen zu einer Selbsttötungsabsicht geführt hat. Namentlich in dem Attest vom 31.8.1999 heißt es weiter, dass es "aufgrund der anstehenden Zwangsversteigerung zu einer akuten Verschlechterung der Depression mit erheblicher Suizidalität gekommen ist". Nach der fachärztlichen Stellungnahme vom 14.12.1999 war der Bf. bei der letzten Arztkonsultation am 6.12.1999 nicht suizidal und hat der Ärztin berichtet, dass er von seinen Absichten, gegen einen Baum zu fahren, Abstand genommen habe, aber durch die Unsicherheit unter ständiger Unruhe, massiven Schlafstörungen und Grübelzwang, verbunden mit Zukunftsangst leide. Dabei führt die Ärztin an, dass ihr Patient zum Zeitpunkt der Konsultation von der vorläufigen Einstellung des Zwangsversteigerungsverfahrens Kenntnis erhalten hatte. Bei dieser Sachlage lässt sich nicht ausschließen, dass die mit der weiteren Durchführung des Zwangsversteigerungsverfahrens verbundenen Beeinträchtigungen und Belastungen wiederum zu einer ernsthaften Suizidgefährdung des Bf. führen können. Nicht sicher feststellen lässt sich, ob er von seinen Suizidabsichten nach erfolgreicher ärztlicher Behandlung und aufgrund der Unterstützung seiner Familie oder mindestens auch in Ansehung des durch die einstweilige Verfahrenseinstellung gewonnenen Aufschubs der Zwangsversteigerung Abstand genommen hat. Dieser Frage hätte das LG nachgehen müssen, es hätte dabei durch Einholung ergänzender fachärztlicher Beurteilungen oder durch eine fachärztliche Begutachtung aufzuklären gehabt, ob bei Fortsetzung des Zwangsversteigerungsverfahrens tatsächlich Suizidgefahr besteht, wie hoch sie einzuschätzen ist und ob die stationäre Behandlung die Gefahr auszuschließen geeignet ist.